Mad Studies und/in/als Disability Studies (Humboldt Universität, 2020)

Eine Verhältnisbestimmung

Mai­-Anh Boger

Da sowohl Disability Studies als auch Mad Studies keine Disziplinen im strengen Sinne des Wortes, sondern transdisziplinäre Geflechte, sog. „In/Disziplinen“ (Kessé & Hornscheidt 2017) sind, lässt sich das Verhältnis zwischen beiden weder theoriegeschichtlich noch genealogisch klären. Um die Frage zu beantworten, ob Mad Studies Teil der Disability Studies sind oder aber ihre Schwestern, muss man daher im Sinne einer Arbeit am Begriff erkunden, was (seelische) BeHinderung ist. Es hängt also unmittelbar an dem Begriff von ‚Behinderung‘, den jemand hat, in welchem Verhältnis diese beiden kritischen Wissenschaftsperspektiven zueinander stehen oder stehen könnten. Im Folgenden möchte ich daher dazu einladen, nicht entlang von Theorielinien, sondern entlang der Selbsterfahrung des behindert Werdens zu sortieren, welche Verhältnisse zwischen Mad Studies und Disability Studies denkbar wären. Dazu würde ich (mal wieder) kurz in meinem Dreieck springen (vgl. Abb. 1).

Die Theorie der trilemmatischen Inklusion (vgl. Boger 2019a-d), die in dieser Dreiecksgraphik kulminiert, dient dazu, den ontologischen Status von Andersheit* auszumachen und sodann zu analysieren, in welche Sackgasse man damit gerät. In einer alltagsprachlichen Formulierung könnte man sagen, es geht dabei darum, welche ‚Klangfarbe‘ eine Andersheit* hat: Geht es um eine (gegen den eigenen Willen) zugeschriebene Andersheit, eine konstruierte Differenz oder aber um das intime Gefühl, sich selbst als ‚irgendwie anders‘ zu erfahren, sich zu fühlen wie ein*e Aussätzige*r? Geht es um ein Empfinden von Andersheit* ob des Ausschlusses aus einer Normalität* oder ganz im Gegenteil um eine Andersheit*, die sich gerade nicht aus einer Vorstellung von Normalität* heraus bestimmt? Diese Klangfarben der Andersheit* – oder eben fachsprachlich formuliert: ihr ontologischer Status – widersprechen einander teilweise, weswegen hier an dem Wörtchen anders* (ebenso wie an dem Gegenbegriff normal*) stets ein Sternchen hängt, um an diesen schwankenden ontologischen Status zu erinnern.

Dabei geht es stets auch um die Frage, was ein widerständiger Umgang mit dieser ontologisch schwankenden Andersheit* aus Betroffenenperspektive wäre. Geht es darum, sich keine Andersheit* zuschreiben zu lassen? Oder besteht die widerständige Geste gerade darin, sich seine Andersheit* nicht nehmen zu lassen? Diese Antworten widersprechen einander; sie stehen in einem Spannungsverhältnis, das einen Widerstreit darüber konzertiert, was denn nun widerständiges Handeln vom behinderten Standpunkt aus sei. In einem Trilemma können nämlich immer nur zwei Sätze gleichzeitig wahr sein: Hat man sich für eine Kombination zweier Ecken (also für eine Seite des obigen Dreiecks) entschieden, ist die dritte Ecke (also der gegenüberliegende Punkt) notwendigerweise ausgeschlossen. Die drei Ecken beschreiben dabei drei verschiedene Verständnisse von widerständigem Begehren: das politische Begehren nach Empowerment (E), nach Normalisierung (N) und nach Dekonstruktion (D). Dieses unauflösbare Spannungsverhältnis zwischen den drei in ihrer Widerständigkeit zu diskutierenden Stimmen wurde in der Buchreihe zur Theorie der trilemmatischen Inklusion auf den Ebenen des Subjektiven, des Politischen und der Theoriebildung untersucht. Dazu wurde mit der Methode der Kartographierung nach Deleuze & Guattari (1977; Boger 2019a) gearbeitet: Es wurde also eine Karte für eine Diskurslandschaft gezeichnet. Man begibt sich dazu auf Wanderschaft, man muss – wie Deleuze & Guattari sagen – nomadisch werden, um alle Stimmen der zu kartographierenden Region hören zu können.

Die Kunst besteht im Folgenden darin, diese dissonanten Stimmen auf sich wirken zu lassen und auch sich selbst zu verorten. So gibt es für jede*n von uns widerständige Formen, mit denen man sich leicht identifizieren kann, aber eben auch solche, die einem regelrecht aufstoßen. Es ist daher Teil der wissenschaftlichen Methode der Kartographierung zu dieser Affektarbeit einzuladen, insofern diese Affekte einem auf leichtfüßigste Weise signalisieren, wo man selbst in diesem Widerstreit positioniert ist. Die Leser*innen sind daher dazu eingeladen, an den Rand zu schreiben, worüber sie lachen oder nicht, womit sie sich identifizieren oder nicht, was ihnen als plausibel erscheint und was nicht, um aus diesen Randnotizen sodann auslesen zu können, an welchen Orten sie sich selbst bewegen. Springen wir nun also einmal durch die Landschaft, indem wir an den Punkten Empowerment, Normalisierung und Dekonstruktion vorbeiwandern und dabei die jeweiligen Begriffe von Verrücktsein und BeHinderung in ihrer je spezifischen Klangfarbe verhandeln:

1. Mad Empowerment: Wer Mad Studies betreiben will, damit die Betroffenen für sich selbst sprechen, muss festlegen, wer (nicht) betroffen ist (E)

Der Anspruch des Empowerments geht damit einher, dass Betroffene für sich selbst sprechen und in Form solidarischer Kollektive eine Gegenstimme erklingen lassen, die auf die Emanzipation der jeweiligen unterdrückten Gruppe zieltund dem herrschenden Unrecht etwas entgegensetzt. Versteht man den fraglichen Gegenstand ‚Madness‘, also zu Deutsch: Irresein oder Verrücktheit, als eine spezifische Erfahrung der Deprivilegierung und Diskriminierung der eigenen Daseins- und Verhaltensweisen, wäre es möglich, im engeren Sinne von einer ‚Betroffenengruppe‘ zu sprechen. Man erhielte dann die übliche Dichotomie ‚Betroffene‘ vs. ‚Nicht-Betroffene‘ (bzw. ‚Andere*‘ vs. ‚Normale*‘ bzw. ‚Veranderte*‘ vs. ‚Normalisierte*‘) und könnte sodann auf dieselbe Weise ein Selbstvertretungsrecht beanspruchen und sinnhaft von ‚Innenperspektive‘ und ‚Außenperspektive‘ sprechen, wie dies zum Beispiel auch in der Körperbehindertenbewegung geschieht. Alsbald muss man jedoch feststellen, dass dies zu einer essentialistischen Festschreibung des Begriffs Irresein bzw. der Kategorie ‚von Psychoableismus Betroffene‘ (zur Begriffsdiskussion und zur Einführung vgl. Lüthi 2016; Oppenländer 2015) führen würde. Ohne festzulegen, wer denn nun betroffen ist, lässt sich schließlich die begehrte Selbstvertretung der Betroffenen nicht haben.

Ironischerweise hat das in dieser politischen Bewegung zur Folge, dass man die betroffenen Personen pathologisieren muss bzw. ihre Pathologisierung wiederholen muss, damit sie Teil der Betroffenengruppe werden, die hier in Selbstvertretung aus der Innenperspektive heraus Wissenschaft betreiben soll kann. Brisant wird dies insbesondere dann, wenn Betroffene, die kein Problem mit Pathologisierung haben, auf solche treffen, die sehr ungemütlich darauf reagieren. Bereits jetzt gilt es also, eine Entscheidung zu treffen: Verbindet man die Annahme einer wie auch immer bestimmbaren Betroffenengruppe, die für den Empowermentansatz notwendig ist, mit einem dekonstruktiven Einsatzpunkt, landet man nämlich in einer anderen Sackgasse, als wenn man die normalistischen Kategorien der Pathologisierung für sich übernimmt. In obiger Graphik wählen wir nun zunächst die Abzweigung, die den Punkt Empowerment (E) mit dem Punkt Dekonstruktion (D) verbindet – also die untere Linie (DE). Sodann wandern wir zurück und wählen die Abzweigung, die den Empowermentpunkt (E) mit dem Normalisierungspunkt (N) verbindet – also die linke Seite des obigen Dreiecks (EN). Im Vergleich wird sodann deutlich, dass es tatsächlich zwei verschiedene Verständnisse oder ‚Vektoren‘ von Empowerment gibt, und dass diese auch in ihrer sprachlichen Klangfarbe weit auseinanderliegen.

2. Dekonstruktive Iteration als Empowerment einer unbestimmbar bleibenden Gruppe (DE)

Auf der DE-Linie des Dreiecks, die also Dekonstruktion (D) und Empowerment (E) verbindet, geht es um ein Wechselspiel aus Annahme und Verschiebung der Kategorie, die das eigene Betroffensein beschreibt. Das bedeutet also mit der Kategorisierung als Andere* zu arbeiten, dies aber so zu tun, dass man dabei die Deutungshoheit wiedergewinnt, indem man sich von dem Blick der Normalen* dermaßen entkoppelt, dass man zu einem selbstbestimmteren Selbstbild gelangt. Das vielleicht berühmteste Beispiel hierfür aus der deutschsprachigen Behindertenbewegung ist die Selbstbezeichnung ‚Krüppelbewegung‘. Wer sich selbst als Krüppel(frau) bezeichnet, bewegt sich einerseits innerhalb der Kategorie Behinderung: Er* nimmt die Adressierung als behindert, also anders* an, was es ermöglicht, einen Empowermentprozess einzuleiten, bei dem behinderte Menschen sich selbst organisieren und für sich selbst sprechen (der Empowerment-Aspekt). Gleichzeitig wird diese Kategorie jedoch verschoben (der dekonstruktive Aspekt), indem man die Erfahrung von Behinderung auf eine Weise zur Sprache bringt, die nicht identisch mit der Repräsentation von Behinderung im öffentlichen Diskurs ist. Durch Sprachspiele, bissige Witze und irritierende Formulierungen und Performances wird hier auf der DE-Linie ein Gegenentwurf zum normalen* Verständnis von Behinderung/Irresein entfaltet.

Der Normalisierungspunkt ist auf dieser Linie also ausgeschlossen, da es explizit darum geht, sich vom Blick der Normalos*, ihren Institutionen, Anstaltslogiken und hegemonialen Erzählungen, ihren Bezeichnungen und Fremdwahrnehmungen zu emanzipieren, um stattdessen aus der Betroffenengruppe selbst heraus alternative Bilder des eigenen Behindert-/Irre-Seins zu entwerfen.

Die pathologisierenden Bezeichnungen des herrschenden Systems (mitsamt seinen Anstalten, Krankenkassen, etc.) werden dabei in der Verschiebung verworfen (D), wozu man jedoch im Auftakt die Adressierung und Gruppierung durch den normalen* Blick (andernorts auch als ‚ableist gaze‘ bezeichnet; s. z. B. Garland-Thomson 1997) annehmen muss (E). Es kommt also nicht zu einer schlichten Übernahme der hegemonialen Bezeichnungen und dichotomen Bilder. Stattdessen wird die eigene biographische Erfahrung zum Ausgang genommen, um jenes wieder sprechbar zu machen, das von der herrschenden Ordnung zum Schweigen gebracht wurde.

Dies bedeutet die Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar zu machen, die einen verrücken. Das ist etwas fundamental anderes als zu behaupten, man sei ‚ganz normal‘, denn man zeigt sich dabei in der eigenen Vulnerabilität und seinem Unverstandensein von den nicht-betroffenen Normalos*. In genau diesem Sinne wird die Pathologisierung nicht komplett aufgehoben, sondern dekonstruktiv iteriert: Das ‚Pathos‘, das in ‚Pathologisierung‘ steckt, wird nicht geleugnet: Da ist immer noch ein Pathos – ein mitunter sehr starkes Leiden sogar – aber dieses zu bestimmen und in Worte zu fassen, wird in die eigenen Hände und Füße genommen (zur Begründung, warum sich die realen Leidenserfahrungen nicht gänzlich wegdekonstruieren, sondern nur mit Verweis auf gesellschaftliche Dynamiken dekonstruktiv verschieben lassen s. z. B. Zander 2015, S. 37). Daher bleibt diese Linie also tatsächlich mit einer Selbstbezeichnung und Selbstwahrnehmung als verrückt verbunden.

Freilich kann man darauf mit einem Mimimi-Eiertanz reagieren, indem man bekundet, dass man zu den Betroffenen gehöre, weil die Gesellschaft einen in diese Kategorie gezwängt hat, dass man aber jetzt unbedingt an dieser Kategorie festhalten und Disability/Mad Studies betreiben wolle, sich selbst alsoweiterhin als behindert/verrückt bezeichnen, weil man im Stile eines Stockholm-Syndroms so gerne an den Worten festhält, die einem mit Gewalt angetan wurden. Sich so zu verhalten ist ironischerweise tatsächlich völlig verrückt, ziemlich meschugge und exakt dem Freud’schen Verständnis von Neurose entsprechend. Ein herzliches Willkommen an meine Mitmimosen! Wir vertauschen die Vokabeln – irre, verrückt, leidend, kaputt; such dir eine aus; das ist ok; du musst auch nicht alle davon mögen. Auf der DE-Linie aber gibt es nur Verschiebungsoptionen und niemals die Möglichkeit, sich für normal* zu halten, denn sie lebt davon, dass wir uns als unterdrückte Gruppe kollektivieren, die Zwangskollektivierung durch die Diskriminierungsform, von der wir gemeinsam betroffen sind, annehmen und sie produktiv wenden. Führen wir es einmal vor, damit der Affekt dieser unteren Dreieckslinie spürbar wird. Spricht man in dieser Klangfarbe von Andersheit*, klingt das ungefähr so:

„Willkommen bei den zerstörten Seelen dieser Erde. Unser Empowerment beginnt genau dann, wenn wir mit dem Schwachsinn aufhören können so zu tun als müsste man uns in Watte packen und sensibel mit uns umgehen. Wenn wir nämlich jene sind, welche die Traumata in sich tragen, über die in der Welt der Nicht-Betroffenen geschwiegen wird, weil sie den Abend ruinieren – Krieg, Inzest, sexuelle Gewalt, Kindesmisshandlung etc. – dann haben wir längst bewiesen, wer sich hier schont: die Privilegierten. Sie schonen sich, indem sie uns wegsperren und al­les überhören und unsichtbar machen wollen, was wir in uns tragen. Mad Empowerment ist daher das Gegenteil einer Plüschgruppe. Wir scheißen auf Wohlbefinden – denn es geht uns sowieso beschissen. Unsere Stimmung war vorher schon ruiniert: Das Problem sind die halbgebildeten Sackratten dieser Gesellschaft, die das ständig ändern wollen und ‚Heilung‘ nennen. Wir wollen keine gute Laune, wir wollen Gerechtigkeit! Wir wollen uns nicht wohlfühlen und nicht geschont werden und wir brauchen im Übrigen auch kein Selbstvertrauen; wir bräuchten einen Feuerdrachen, einen Spartacus, einen Aufstand der Unterdrückten. Die einzige ‚Black Girl Magic‘, die mich interessiert, ist die der Amazonen Kriegerinnen. Vor allem aber sei gesagt, dass wir auf das Wohlbefinden der Nicht-Betroffenen scheißen, denn deren Fokus auf ein falsches Verständnis von Gewaltlosigkeit war es schließlich, der uns zum Schweigen brachte: weil wir ungemütlich sind, unfreundlich, dreist und latent aggressiv, hysterisch, nicht sachlich genug und eh schon wieder halb am Schreien.“

Mimetisches Sprechen im Stil der DE­Linie

Es wird also pluralisch gesprochen: Eine Betroffenengruppe wird darin repräsentiert und das auf andere* Weise als im hegemonialen Diskurs, sodass es zu einer Verschiebung der herrschenden Vorstellung kommt. So wurde in obigem Passus vor allem die Zuschreibung von Fragilität und Schwäche von den Betroffenen auf die Normalos* zurückgeworfen. Wie jeder repräsentationale Sprechakt ist auch dieser brüchig. Er wird sich für einige Mitbetroffene stimmig anfühlen und andere regelrecht erzürnen. Daher bleibt die Bestimmung des Wesens dieser Andersheit* auf der DE-Linie stets offen: Sie bleibt umkämpft, da sie lediglich die internen Debatten energetisiert. Geltung aber erhalten solche Sprechakte seltenst, denn es fehlt ihnen an Durchsetzungsmacht im herrschenden Diskurs – ob nun in obiger oder in einer ganz anderen Variation.

Wie schön, dass wir so viele beherbergen, die auf sozial inadäquate Art gegen diese iterierte Bestimmung des Betroffenseins anpöbeln können! Genau deren Widerrede – mitsamt des Mangels an Affektregulation, die sich darin zeigt – wird unsere internen Debatten immer wieder neu zu Verschiebungen zwingen. Mein obiger Aufschlag war ein stark traumatheoretischer. Man hört ihm auch an, dass er von einer Frau of Color verfasst wurde. Andere unter uns*hätten die Pointe der Gegennarration auch andernorts gefunden – und das ist ok; denn auf dieser Linie geht es zunächst nur darum, überhaupt ins Sprechen zu kommen über jenes, das in den Anstalten und der Öffentlichkeit der Normalen* niemanden interessiert.

3. Empowerment als Einfordern des Rechts auf Teilhabe an
unverrückter Normalität (EN)

Dann gibt es aber eben auch jene, die vom Pöbeln Abstand halten und sich sehr gesittet dafür entschieden haben, die andere Abzweigung zu nehmen: Vom Empowermentpunkt (E) ausgehend nach schräg oben in Richtung Normalisierung (N). Vernehmen wir zunächst den sprachlichen Kontrast der EN-Linie zur im Absatz vorher dargestellten DE-Linie. Die Gestalt dieser Andersheit* flüstert dir zu:

„ ‚Hast du auch diese Stimme in dir, die sagt, es wäre Zeit einzusehen, dass man sich wirklich mal selbstkritisch in die Mangel nehmen sollte und sich zusammenreißen? Willkommen auf der Verbindungslinie derer, die um ihre Defizite wissen und nach Hilfe dabei suchen, wieder einen Weg in die Normalität* zu finden.‘ Die Klangfarbe der eigenen Andersheit* ist hier von einer Dialektik der Unterwerfung und Entunterwerfung geprägt: ‚Ich sehe ja ein, dass ich in Therapie gehen und an mir selbst arbeiten muss‘, sagt diese Stimme in ihrer unterwerfenden Seite. Und dann wieder – in ihrer entunterwerfenden Seite: ‚ABER nicht unter diesen Bedingungen, nicht so, nicht in diesen Anstalten, nicht in einem Apparat, der mich nur anpassen will, ohne auch nur zu versuchen, mich zu verstehen!“

Mimetisches Sprechen im Stil der EN-Linie

Vielen Hardliner*innen der oben skizzierten DE-Linie ist es ein Dorn im Auge, dass es mitten in der psychiatriekritischen Bewegung Leute gibt, die sich freiwillig selbst einweisen, die sich sogar wünschen, dass man ihnen Psychopharmaka verschreibt, und die auch daran glauben, dass sie ‚krank‘ sind. Auf der EN-Linie aber wird nicht die Pathologisierung (und die hegemoniale Konstruktion der Betroffenengruppe, die durch diese diskursiv erschaffen wird) abgewiesen, sondern es geht lediglich um das Recht auf eine humane, gewaltlose und möglichst selbstbestimmte Behandlung/Hilfe beim Durchleben der eigenen Krisen und beim Durcharbeiten der eigenen psychischen Konflikte.

Gefordert wird hier nicht eine Kritik der Pathologisierung oder das Entfalten einer Gegennarration, um Irresein anders zu bestimmen, sondern die Kritik richtet sich sehr konkret an die dehumanisierenden Verwahranstalten und die Entmündigung Hilfe suchender Menschen. Das Grundkonzept, dass diese Menschen Hilfe brauchen, weil etwas mit ihnen nicht stimmt, weil sie also anders* sind, wird dabei jedoch nicht angegangen. Wieder mimetisch gesprochen klingt das so:

„Ich bin irre, ja, aber das gibt euch nicht das Recht, mir Gewalt anzutun und mich zu entwerten. Freilich kann ich manche Dinge nicht (aushalten) und funktioniere nicht immer so wie normale* Menschen es tun, aber ich arbeite daran und habe verdient, dass man mir auf würdige Weise dabei hilft.“

Die Beschreibung der eigenen Andersheit* ist hier auf der EN-Linie auf allen Ebenen hörbar/fühlbar different zur vorherigen Version auf der DE-Linie: Das Verständnis von Empowerment geht hier davon aus, dass es dabei darum ginge, sich das Recht zu geben, eine selbstbestimmte und würdige Teilhabe an der Welt der Normalen* zu erstreiten, während es auf der DE-Linie um ein Empowerment ging, das auf eine Befreiung von der abstrusen Idee zielt, Normalität* wäre ein erstrebenswertes Lebensziel. Auch der sprachliche Duktus und die leitenden Affekte sind verschieden: Während auf der DE-Linie daran erinnert wird, dass der Begriff ‚madness‘ auch in der Spur der Konnotation ‚irre wütend (auf jemanden, etwas oder das System) sein‘ verstanden werden muss, ist hier auf der EN-Linie der leitende Affekt jener der Trauer über das Ausgeschlossen- und Unverstanden-Sein. Will man nämlich bei den Normalen* mitspielen, schmerzt es, wenn diese einen stattdessen isolieren (EN). Scheißt man hingegen darauf, was normale* Menschen in ihrer Borniertheit für ein gelingendes bürgerliches Leben halten, wird es einen auch nicht weiter kratzen, wenn diese Abstand von einem halten (DE).

Der dekonstruktive Einsatzpunkt ist auf der EN-Linie also ausgeschlossen, weil das Subjekt hier die Pathologisierung in ihrer herrschenden Form annimmt und auch die Zuschreibung von Andersheit* sowie des Problematischen/Defizitären daran akzeptiert. Auch eine sehr freundliche, oberflächlich ressourcenorientierte Umformulierung für die auf dieser Linie als Tatsache akzeptierte eigene Verhaltensproblematik ändert daran nichts: Die Pathologisierung sowie die diskursiv konstruierte Dichotomie ‚Normale* vs. Andere*‘ bzw. ‚Betroffene vs. Nicht-Betroffene‘ wird dabei also sogar verhärtet statt sie dekonstruktiv in Bewegung zu setzen. Dies wird in Kauf genommen zugunsten eines strategischen Essentialismus (vgl. Spivak 2008), der es ermöglicht, aus dieser Betroffenengruppe heraus Rechte zu erstreiten. Mitunter ist dies die einzige vernünftige Option, wenn man rechtlich zu etwas kommen will: Hätte man zum Beispiel den Begriff ‚Behinderung‘ just in dem Moment dekonstruiert, in dem es galt, für eine ‚Behindertenrechtskonvention‘ (UN-BRK) zu kämpfen, hätte man diesen historischen Sieg verhindert. Wären wir nicht anders* und nicht besonders* vulnerabel im Vergleich zu den normalisierten* Subjekten, bräuchten wir schließlich keine UN-Konvention zu unserem besonderen* Schutz. Die Essenz dieser vulnerablen Andersheit* wird daher auf der EN-Linie festgehalten und verhärtet, statt sie anti-essentialistisch aufzulösen (wie es auf der ND-Linie geschieht; ausgeführt in Absatz 5).

4. Normalität als erkämpfte, verworfene, ersehnte, verlorene, begehrte, unterdrückerische Realität (N)

Bleiben wir für einen Moment am obersten Punkt in der Graphik stehen und betrachten die Welt von diesem, also vom normalen* Standpunkt aus: „Liebe Grüße an euch Irre da unten! Ich bin geheilt.“ – sagt diese Stimme. Tatsächlich habe ich mich schon oft gefragt, was man eigentlich als ‚Ex-Behinderte‘ in den Disability Studies tut oder tun könnte. Bei mir ist das dunkelste Kapitel meines Lebens ziemlich sicher abgeschlossen; doch hängt es eben am Begriff von BeHinderung bzw. von Irresein, ob diese Spur tatsächlich verblassen kann oder ob da stets etwas bleibt. An diesem Punkt im Trilemma kann man sich also nur befinden, wenn da etwas in einem ist, das sich sinnhaft als ‚völlig normal*‘ verstehen und darstellen kann. Das ist, als würde man sagen:

„Ich habe einen Job, ein geregeltes Einkommen, eine bürgerliche Wohnung, in der ich selbstbestimmt leben kann und ein Hobby noch dazu. Wie ‚anders*‘ soll ich denn da (noch) sein? Meine Ische und ich kamen neulich auf die grandiose Idee, samstags zu IKEA zu gehen. Ich glaube, das ist das Verrückteste, was ich in den letzten Monaten getan habe – vielleicht zusammen mit dem Kaufen der Weihnachtsgeschenke auf den letzten Drücker. Wir sind uns einig, dass man diese Wahnsinnsaktion nur als tiefe Sehnsucht nach umfassender kultureller Teilhabe verstehen kann. Wie könnte man integrierter in einen Kulturraum sein, denn als Teil der Zombiehorde, die zu spät und latent gestresst ihren Beitrag zum kollektiven Konsumrausch eines ehemals christlichen Festes leistet? Wie Sie sehen, bin ich ganz normal*. Mein Leben ist bei Weitem nicht so aufregend wie gewisse andere Menschen es sich vorstellen.“

Mimetisches Sprechen im Stil des Punktes N

An diesem Punkt geht es also nicht mehr um die Klangfarbe der Andersheit*, sondern um jene der Normalität*, insofern die Frage, ob man sich als anders* verstehe, mit Nein beantwortet wird. Diese Stimme in sich zu erkunden, ist vor allem deshalb wichtig, da sie uns davon abhält, unsere Privilegierungen zu verleugnen. Sie nimmt das allzu Gewöhnliche an uns in den Blick: die Weisen, in denen wir mitschwimmen wie alle anderen Menschen auch, als Teil der grauen Massen, als irgendeine Existenz unter den Millionen dieser Erde, die schließlich alle mal leicht verstört sind oder rumkriseln.

Wie sich diese Normalität* anfühlt, hängt stark davon ab, ob sie hart erkämpft ist oder ob man sich in ihr zwangsverhaftet fühlt. So wird sich ein Mensch, der sich jahrelang danach gesehnt hat, wieder in einer geregelten Normalität* anzukommen, anders zu dieser Normalitätskonstruktion verhalten als jemand, der dazu genötigt wurde, sich zu normalisieren. Daher wird ‚Normalität‘ in allen Behindertenbewegungen stets ein Doppelgesicht bewahren: Für die einen ist sie oppressiv, jener dunkle Ort, von dem die Zuschreibung von Andersheit* ausgeht. Für die anderen ist sie hart erkämpftes Ergebnis eines jahrelangen Streits um das Recht auf selbstbestimmtes Leben außerhalb von Anstalten. Wer nur eine Facette des Normalitätsbegriffs sehen kann, versteht daher auch nur eine Seite der Forderungen von Behindertenbewegungen: Daher darf man nie so tun, als wäre jede Normalität* und jeder Begriff von Normalität* oppressiv oder auch nur per se problematisch, denn dies würde bedeuten, den Skandal zu verleugnen, dass immer noch erschreckend viele Menschen systematisch von Normalitäten* ausgeschlossen werden. Aus diesem Grund schwankt auch der ontologische Status der Normalität* in den Erzählungen von der Erfahrung, behindert zu werden: Mal erscheint sie uns als dekonstruierbare diskursive Konstruktion, die sich leicht verrücken lässt, und dann wieder als bitterlich-reale Wand, von der sich nicht einmal ein Steinchen verschieben lässt.

5. Not-Not-Disability Studies (ND)

Als Linton die Unterscheidung zwischen ‚Disability Studies‘ und ‚Not Disability Studies‘ aufmachte (1998), wurde eine dritte Option vergessen: ‚Not-Not-Disability Studies‘. Diese erscheint, nachdem man das Normale* in sich erkundet hat und führt zu einer dekonstruktiven Verschiebung des Bildes von Normalität* von innen heraus. Wir sind in der Graphik jetzt also auf der rechtsseitigen Linie des Dreiecks, die Normalität (N) und Dekonstruktion (D) verbindet. Auf dieser Linie geht es darum, sich als selbstverständlichen Teil einer Normalität* zu verstehen, die so unendlich vielfältig ist, dass das Wort ‚Normalität‘ im Grunde genommen seine Bedeutung verliert. Auch hier wird also darum gekämpft, sich in eine Normalität einzuschreiben, aber – im Gegensatz zur EN-Linie – nicht als Andere*, sondern ganz im Gegenteil unter Verweigerung der Zuschreibung von Andersheit*. Der Unterschied zwischen den beiden Linien, die sich mit dem Normalitätspol verbinden, besteht also darin, dass auf der EN-Linie eine Teilhabe der Anderen* an einer Normalität* erkämpft wird, während auf der ND-Linie die Wirkmacht von Normalitätsvorstellungen, von denen die Zuschreibung von Andersheit* ausgeht, zerstört werden soll, sodass alle ganz selbstverständlich in ihrer Individualität und ohne die Kategorisierung als anders* teilhaben. Das potentiell Subversive besteht also darin, die Adressierung als Behinderte zu verweigern. Im akademischen Feld betrifft dies ebenjene Frage, ob man noch irgendeine Chance hat, nicht ständig auf die eigene Behinderung verwiesen und essentialistisch auf diese fixiert zu werden, wenn man mit dem ‚Disability Studies‘-Label arbeitet. Das paradoxe Label ‚Not-Not-Disability-Studies‘ richtet sich an jene, die sich manchmal fragen, ob sie denn auch ganz normale* Wissenschaftler*innen sein dürften. Das klingt affektlogisch dann ungefähr so:

„Ich erinnere mich, wie ich neulich morgens aufstand und meine Emails las: Ob ich einen Vortrag zu Disability Studies halten könnte? Sie hätten gerne Betroffene dabei, die aus der Eigenperspektive sprechen. Nichts über uns ohne uns und so… Ich schaute in den Spiegel und fragte ihn: ‚Yo, bist du behindert?‘. Der Spiegel sagte an diesem Tage aus Prinzip ‚Nö‘. Ich bin es eigentlich leid, in diese Rolle gesteckt zu werden, habe keine Lust, dort hin zu fahren und die Behinderte zu machen – auch wenn das gewiss liebe Leute sind und sie aus den richtigen politischen Gründen darauf achten, dass Selbstvertreter*innen da sind. Da ich wusste, dass diese Verweigerung der Zuschreibung von Andersheit ebenso brüchig ist wie die Annahme ihrer, sagte ich zu. Am betreffenden Tag hatte ich immer noch keine Lust auf die Behindertenrolle und sprach also 90 Minuten über Rassismus und Sexismus. Nach dem Vortrag kam eine Zuhörende zu mir und sagte: ‚Das fand ich ja super! Das war genau die intersektionale Irritation, die das Publikum gebraucht hat, um sich Behinderte nicht immer als weiße Männer vorzustellen!‘. Es gibt keinen Ausweg… Ich würde ja nächstes Mal ausprobieren, was passiert, wenn ich 90 Minuten über Kartoffelsalat rede, aber dann halten sie mich wirklich für verrückt. No Exit…“

Mimetisches Sprechen im Stil der ND-Linie

Die Verweigerung der Zuschreibung von Andersheit* wird so lange eine wider- ständige Geste sein, wie die herrschenden Dichotomien intakt sind. Diese dichotomen Bilder zu erschüttern, welche die Welt in die jeweiligen Normalen* (Heteros, cis-Männer, weiß, deutsch, christlich, nicht-behindert, etc.) und die jeweiligen Anderen* (queer, weiblich, Schwarz of Color, migrantisch, behindert, krank etc.) unterteilen, bleibt daher eine notwendige, wenn auch paradoxe Klangfarbe der Nicht-Andersheit* jener, denen Andersheit* zugeschrieben wird. Es ist jene Stimme in uns, die gerne auch mal ein Individuum wäre – nicht, weil wir unpolitisch werden wollten, sondern weil es in einer diskriminierenden Welt ein Privileg ist, als Individuum wahrgenommen zu werden.

Dieses Privileg zu erstreiten, bedeutet Vorstellungen von Normalität* dergestalt zu dekonstruieren, dass man sie von innen heraus zersprengt, indem man für sich beansprucht, Teil dieser unendlich vielfältigen Normalität* des Verschiedenen zu sein, die sich nicht in dichotomen Kategorien fassen lässt. Doch auch auf dieser Linie ist der dritte Punkt ausgeschlossen: Wer so konsequent an einer anti-dichotomen Dekonstruktion von Normalität* hängt, kann nicht mehr im Sinne der Empowermentpolitiken von einer Betroffenengruppe sprechen, er kann nicht mehr festlegen, wer hier überhaupt zur diskriminierten Gruppe zählt und wer nicht, wer also überhaupt auf sinnhafte Weise von sich selbst als Selbstvertreter*in sprechen kann. Wer sich konsequent weigert, in der dichotomen Logik von Normalen* und Anderen* zu sprechen, da er nicht an diese Kategorien glaubt, der kann zum Beispiel auch nicht im Sinne des Anspruchs an Behindertenselbstorganisation den Nicht-Behinderten das Stimmrecht entziehen. Man muss daher stets aufpassen, wer aus welcher Motivation heraus das Denken in Dichotomien kritisiert, denn allzu häufig dient dies nur einer schöngeistigen Verschleierung der Machtverhältnisse, die nur den jeweiligen Normalen* nutzt, die sodann angeblich nicht einmal mehr als solche bezeichnet werden dürfen.

Die zwei Linien, die sich mit dem Dekonstruktionspunkt verbinden, unterscheiden sich also darin, was genau hier dekonstruktiv verschoben werden soll:

In Absatz 2 – auf der DE-Linie – geht es um eine Dekonstruktion des Selbstbildes einer Betroffenengruppe, ohne dass dabei die Kategorie der Andersheit* ganz fallen gelassen wurde. In Absatz 5 – auf der ND-Linie – wird hingegen ebenjene dichotome Unterscheidung zwischen Normalen* und Anderen* bzw. zwischen Betroffenen und Nicht-Betroffenen angegangen. Auf der ND-Linie geht es also darum, die Zuschreibung von Andersheit* zu verweigern, wohingegen es bei der DE-Linie darum geht, die Deutungshoheit über die Andersheit* zu gewinnen, die man aber nicht als solche bestreitet oder abweist.

6. Zum Verhältnis ‚Mad Studies – Disability Studies‘

Alles hier Gesagte – sämtliche Klangfarben von Andersheit* – lässt sich leicht auf andere Behinderungsformen übertragen; das trilemmatische Problem gilt sogar für alle Formen von Diskriminierung (vgl. Boger 2019a-d). Das Verhältnis von Disability Studies zu Mad Studies hängt also daran, wie man die Frage beantwortet, ob ihr* aus den Disability Studies da drüben auf eine andere Weise ‚anders‘ seid als wir* es sind. Da wir alle* – egal ob aus den Disability Studies oder den Mad Studies oder auch den Blindness Studies oder Deaf Studies – uns aber noch nicht einmal mit uns selbst darüber einig werden, ob diese Andersheit* denn nun eine zugeschriebene oder eine real empfundene, eine zurückeroberte, eine stolze Andersheit im Disability Pride-Style oder nur eine lästige, hoffentlich vorübergehende Bezeichnungsnotwendigkeit ist, lohnt sich die Frage als abstrakte im Grunde genommen gar nicht. Vielmehr gilt es, von der abstrakten Frage wegzukommen – hin zu konkreten Begegnungen. Auf der ND-Linie bei den Kategorienverweigerer*innen ist es am schnellsten abgehakt: Spreche ich nämlich zum Beispiel mit einem Individuum, das nicht ständig in die Behindertenrolle gedrängt und in die Disability Studies-Ecke geschoben werden will (ND), dann werde ich mich mit ihr einfach unter Philosoph*innen oder unter Sozialwissenschaftler*innen unterhalten, ohne dabei überhaupt mit dem Kategoriensalat anzufangen. Die Frage nach dem Verhältnis Disability Studies – Mad Studies stellt sich in dieser Begegnung gar nicht erst.

Was die EN-Linie betrifft, liegt die Entscheidung über das Verhältnis von Mad Studies und Disability Studies sowieso nicht bei uns, denn sozialrechtlich sind wir verwoben, ebenso wie es in der UN-BRK auch um den ganzen Fächer an Behinderungsformen geht. Unterwirft man sich diesen Diskursen, um in ihnen mitdiskutieren zu können, ist die Frage nach unserem Verhältnis also schon beantwortet: Behinderung ist der Oberbegriff und seelische Behinderung die Unterkategorie und homolog dazu sind die Disability Studies das Mutterschiff und die Mad Studies ihr irrer Ableger. Die begriffliche Bestimmung als (positiv-rechtliche) Unterkategorie auf der EN-Linie führt zu einer Verhältnisbestimmung der Mad Studies als Teildisziplin. Nur auf der DE-Linie, dort, wo wir in lebendiger Verhandlung darüber bleiben, wie wir selbst unser Anderssein*/unsere Behinderung*/unser Irresein* abseits hegemonialer und positivrechtlicher Kategorisierungen verstehen, dort bleibt es spannend.

7. Sich gegenseitig verrücken und enthindern (wieder bei DE)

In den USA hört man aus den Widerstandsbewegungen Schwarzer Frauen in letzter Zeit häufiger den Begriff ‚radical honesty‘. Dieses Konzept fokussiert die subversive Wirkung radikal ehrlicher, ungeschönter Erzählungen vom minoritären Standpunkt aus. So führt zum Beispiel Charlene Carruthers (in: Kai 2018) aus, dass radikale Ehrlichkeit zugleich das schlichteste und das wirkmächtigste Mittel sei, um Machtverhältnisse und ihre fatalen Konsequenzen aufzudecken. Bianca Williams (2017) ergänzt, dass das Konzept zudem einen Gegenentwurf zu der abstrusen Idee liefere, strategische Allianzen seien rein rational begründet, denn in radikaler Ehrlichkeit legen wir stets auch offen, was uns zu unseren Begegnungen motiviert – und Motivation hat immer etwas mit unseren Gefühlen zu tun.

Diese radikale Offenheit im Umgang miteinander hilft auch dabei, verrückte und verrückende Allianzen zu stiften. So lautet zum Beispiel die radikal ehrliche Antwort auf die Frage, warum ich so gerne Zeit mit tauben Menschen verbracht und mich viel mit Gehörlosenkultur befasst habe: Ich musste mich nicht fragen, ob sie die Stimmen auch hören. Das war wie Urlaub. Auf der Suche nach einer nicht-psychiatrischen Lösung für mein Problem durchforstete ich die Literatur nach nicht-pathologisierenden Antworten auf die Frage, was es eigentlich bedeutet, ‚innere Stimmen zu hören‘ – und fand die differenziertesten und vor allem kreativsten Antworten darauf in den Deaf Studies. Ich fühlte mich dort sicher, aber nicht, weil mir irgendjemand einen ‚safe space‘ versprochen hatte, sondern weil ich wusste, dass dort alle das Gefühl kennen, das viele Normalos* nicht verstehen und daher häufig entwerten, auf welche Weisen wir die Welt um uns herum wahrnehmen. Man muss eben nicht von derselben Sache betroffen sein, um auf dieselbe Weise betroffen zu sein. Das Befreiende an solchen Allianzen besteht zudem in einer tiefgreifenden Störung der etablierten Dichotomie von ‚normalen Helfer*innen‘ und ‚behinderten Hilfesuchenden‘.

Ich erinnere mich zum Beispiel, wie ich als Jugendliche einmal mitten in einem psychotischen Schub in einen Bus einstieg. Ein angeblich ‚geistig behinderter‘ junger Mann sah mich, ging auf mich zu und nahm mich unkommentiert in den Arm. Er hielt mich dann so zwei Stationen lang fest, was seine Mutter (ich glaube jedenfalls, es war seine Mutter?) anscheinend nicht so adäquat fand wie wir beide. Er erklärte ihr sodann ganz geduldig, dass ich offensichtlich Angst habe, weil die Geister mich verfolgen, und dass eine Umarmung dagegen helfe. Diese diagnostische Präzision hatte ich bis dato noch bei keinem Psychiater erlebt. Ich weiß jedenfalls, wen ich in dieser Szene für geistig verhindert halte… Die Unfähigkeit vieler normaler* Menschen, sich vorzustellen, wie anders* die (zwischen-)menschliche Wahrnehmung sein kann, führt bis heute dazu, dass übersehen, überhört und semiotisch übergangen und überfühlt wird, was wir einander zu geben haben. Ich aber, die ich ständig irre, weiß eines sicher: Wenn wir uns verbünden, kann uns niemand mehr darin behindern, unseren Eigensinn frei zu entfalten und in seiner Schönheit und Kraft erstrahlen zu lassen.

Literatur

Boger, Mai-Anh (2019a): Die Methode der sozialwissenschaftlichen Kartographierung. Eine Einladung zum Mitfühlen – Mitdiskutieren – Mitdenken. Münster: edition assemblage. Online verfügbar unter www.edition-assemblage.de/buecher/trilemma-methodenteil/ (Abfrage: 31.03.2019).

Boger, Mai-Anh (2019b): Subjekte der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitfühlen. Münster: edition assemblage.

Boger, Mai-Anh (2019c): Politiken der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdiskutieren. Münster: edition assemblage.

Boger, Mai-Anh (2019d): Theorien der Inklusion. Die Theorie der trilemmatischen Inklusion zum Mitdenken. Münster: edition assemblage.

Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1977): Rhizom. Berlin: Merve-Verlag.

Garland-Thomson, Rosemarie (1997): Extraordinary bodies. Figuring physical disability in American culture and literature. New York: Columbia University Press.

Kai, Maiysha (2018): Unapologetic: Activist and Author Charlene Carruthers Says Radical Movements Require Radical Honesty. In: The Glow up, 29.08.2018. theglowup.theroot.com/unapologetic-activist-and-author-charlene-carruthers-s-1828670627 (Abfrage: 05.05.2019).

Kessé, Emily/Hornscheidt, Lann (2017): Der Schauplatz der Disziplinarität: Was macht Inter-, Trans- und Postdisziplinarität mit Gender Studies (und was ist gar nicht fragbar so). In: Buikema, Rosemarie/Thiele, Kathrin (Hrsg.): Doing Gender in Medien-, Kunst- und Kulturwissenschaften. Eine Einführung. Berlin, Münster: LIT, S. 79–98.

Linton, Simi (1998): Claiming disability. Knowledge and identity. New York NY u. a.: New York University Press.

Lüthi, Eliah Hannes (2016): Relocating Mad_Trans Re_presentations Within an Intersectional Framework. In: Intersectionalities: A Global Journal of Social Work Analysis, Research, Polity, and Practice 5, H. 3, S. 130–150.

Oppenländer, Lio (2015): Verzweifeln in der dritten Person. Depression als Psychopathologisierung und internalisierte Diskriminierung interdepenDenken. In: AK Forschungshandeln (Hrsg.): InterdepenDenken! Wie Positionierung und Intersektionalität forschend gestalten? 1. Auflage. Berlin: w_orten & meer, S. 27–48.

Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Righting wrongs. Unrecht richten. 1. Auflage. Zürich: Diaphanes.

Williams, Bianca C. (2017): Black Feminist Politic of Teaching & Organizing with Emotion.

Hg. v. Humanities Futures. Duke University. humanitiesfutures.org/media/radical-ho-nesty-subjective-truths-black-feminist-politic-teaching-organizing-emotion (Abfrage: 05.05.2019).

Zander, Michael (2015): Chronische Krankheit aus der Perspektive der Disability Studies. In: sozialmagazin, H. 7–8, S. 32–39.